Zum Inhalt springen
Henrik Müller

Inflation Warum die EZB mit Zinssenkungen warten sollte

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Die Europäische Zentralbank scheint sich festgelegt zu haben: Donnerstag sollen die Leitzinsen sinken. Es wäre die erste Lockerung nach zwei Jahren straffer Geldpolitik – und womöglich ein folgenschwerer Fehler des EZB-Rats um Präsidentin Christine Lagarde.
Der richtige Weg? Das Gremium um EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat offenbar viel Vertrauen in seine analytischen Fähigkeiten

Der richtige Weg? Das Gremium um EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat offenbar viel Vertrauen in seine analytischen Fähigkeiten

Foto: Boris Roessler / dpa

Am kommenden Donnerstag wird die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen senken. Alles andere wäre jedenfalls eine handfeste Überraschung. Die Notenbanker haben sich ziemlich deutlich festgelegt, intern und extern. Bei der Sitzung des EZB-Rats im April zeigten sie sich optimistisch, dass sie beim Juni-Treffen beginnen könnten, „die geldpolitischen Restriktionen zurückzunehmen“, so geht es aus dem Sitzungsprotokoll hervor.  Was übersetzt so viel heißt wie: eine Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte. Ähnlich hat sich auch Präsidentin Christine Lagarde (68) wiederholt öffentlich vernehmen lassen.

Es wäre der erste Zinsschnitt nach einer zweijährigen Phase straffer Geldpolitik. Die EZB und andere Notenbanken hatten die aufkeimende Inflation zunächst nicht ernst genommen, bis sie schließlich gegensteuerten – spät, aber entschlossen.

Nun liegt die Inflationsrate im Euroraum seit einem halben Jahr unter 3 Prozent, viel niedriger als in den vergangenen beiden Jahren. Aus Sicht der Währungshüter ist nun anscheinend der Zeitpunkt gekommen, es mit der Geldversorgung etwas lockerer angehen zu lassen.

Ich befürchte, dass die EZB dabei ist, einen folgenschweren Fehler zu machen. Womöglich schätzt sie die Lage abermals falsch ein – ähnlich wie 2021/22, als sie monatelang der sich beschleunigenden Preisdynamik zusah, ohne aktiv zu werden.

Inflation über Normalniveau

Neue Zahlen, veröffentlicht in der abgelaufenen Woche, zeigen, dass die derzeitige Inflationsepisode noch nicht vorbei ist. Die Preissteigerungsrate im Euroraum lag im Mai bei 2,6 Prozent, nach 2,4 Prozent im April. Es ist der höchste Wert seit Februar – und nach wie vor deutlich über dem EZB-Zielwert von 2 Prozent.

Die sogenannte Kernrate (ohne Energie und Nahrungsmittel) ist ebenfalls gestiegen, auf 2,9 Prozent. Vor allem Dienstleistungen sind teurer geworden, zuletzt um 4,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, insbesondere wegen der nachholenden Lohnsteigerungen nach dem inflationsbedingten Kaufkraftverlust. In der Hälfte der Euro-Mitgliedstaaten fielen die Preissteigerungsraten zuletzt wieder höher aus. Ist es wirklich eine gute Idee, angesichts dieser Datenlage die Zinsen zu senken?

Klar, man kann argumentieren, dass es unerheblich ist, ob die Leitzinsen der EZB um einen Viertelprozentpunkt höher oder niedriger liegen. In jedem Fall bleiben sie über der Kerninflationsrate (also real positiv) und damit tendenziell restriktiv, sodass die Geldpolitik weiterhin die Wirtschaft und den Preisanstieg bremst.

Da sich die EZB aber bereits öffentlich festgelegt hat, wird sie kaum umhinkommen, nun ihren Ankündigungen Taten folgen zu lassen. Andernfalls würde sie ihre Glaubwürdigkeit gegenüber den Finanzmärkten gefährden und gehörige Unsicherheit stiften.

Folgt man dieser Argumentation, sieht die Sache wenig dramatisch aus: Wenn die EZB jetzt die Zinsen etwas senkt und dann erst einmal abwartet, wie sich die Dinge weiterentwickeln, vergibt sie sich nichts. Mag sein. (Ich habe einige Zweifel, ob das so stimmt. Dazu etwas weiter unten mehr.)

Aber warum hat sich die EZB überhaupt in diese Situation gebracht? Warum muss sie jetzt ihren eigenen Ankündigungen hinterherlaufen? Niemand zwingt eine Notenbank, sich im Vorhinein auf bestimmte Schritte festzulegen. Auch die US-amerikanische Federal Reserve tut das nicht in der schwer kalkulierbaren gegenwärtigen Gemengelage. Warum die EZB?

Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Fachleute in den EZB-Doppeltürmen reichlich viel Vertrauen in ihre hauseigenen analytischen Fähigkeiten haben. Die sind zweifellos beeindruckend. Aber was die Vorhersagen für die nähere Zukunft angeht, haben sie, wie zuvor erwähnt, schon mal ziemlich daneben gelegen.

Oops, I did it again!

Vor einigen Monaten hat Philipp Lane (54), der einflussreiche Chefökonom der EZB, einen hochinteressanten Blog-Post veröffentlicht.  Darin zeichnet er nach, wie den Frankfurter Euro-Hütern in den Jahren 2021/22 die Inflation entglitten ist. Es ist ein langer Beitrag, voller Zahlen, Grafiken und Daten.

Spannend an dem Text ist aus meiner Sicht dreierlei:

  1. Wie stark die modellgestützten Inflationsprojektionen, die den Maßstab für das Handeln der EZB darstellen, der Realität steigender Inflationsraten hinterherhinkten.

  2. Wie lange die Notenbanker ihren Modellen trotzdem weiterhin Glauben schenkten und davon ausgingen, der beobachtete Preisschub sei bloß „vorübergehend“ („transitory“), sodass man um Zinserhöhungen herumkäme.

  3. Wie seltsam passiv Lanes Sprache gehalten ist, voll von Formulierungen, die die handelnden Personen ausblenden („es wurde entschieden“, „es wurde allgemein anerkannt“ …) – als seien es anonyme Kräfte gewesen, die den größten Inflationsschub seit Jahrzehnten aus dem Ruder laufen lassen haben, keine realexistierenden Menschen.

Falls dies eine Rechtfertigungsschrift sein soll, dann kommt sie spät und arg verklausuliert daher. EZB-Präsidentin Lagarde formulierte bereits im Spätsommer 2022 bei ihrer turnusmäßigen Pressekonferenz ein öffentliches mea culpa (siehe auch diese Kolumne, die kurz zuvor erschien). Ihr Chefökonom betont nun stattdessen die große Ungewissheit, die damals angesichts der auslaufenden Pandemie und des beginnenden Ukrainekriegs geherrscht habe. Was unbestreitbar wahr ist, aber das Resultat – hohe Inflationsraten, sinkende Realeinkommen – nicht besser macht.

„Holprig und graduell“

Bei mir gehen deshalb ein paar Alarmlampen an, wenn ich aktuelle Erklärungen Lanes zur weiteren Inflationsentwicklung und zum Vorgehen der EZB lese. In einem Interview mit der „Financial Times “, erweckt der EZB-Vordenker abermals den Eindruck, den Durchblick und alles im Griff zu haben. Wieder geht es um die Inflationsprojektionen, diesmal bis 2026. Wieder gehen Lane und seine Leute davon aus, dass die Preissteigerungsraten im Trend sinken. Die Rückkehr zur Normalität werde „holprig und graduell“ („bumpy and gradual“) vonstattengehen. Entsprechend würden die Zinsen nur in kleinen Schritten gesenkt. Im Übrigen entscheide man „datenabhängig“ von Sitzung zu Sitzung.

Lanes Analyse lässt sich so verstehen: Es gibt einen vorgezeichneten Weg allmählich sinkender Inflationsraten, den die EZB kennt und korrekt projiziert. Natürlich bleiben gewisse Unschärfen und „holprige“ Einflüsse, die unterwegs für Überraschungen sorgen können. Im Groben lässt sich der Weg absehen, nicht jedoch in jedem Detail. Wann genau die Zinsen gesenkt werden und unter welchen Umständen dies geschieht, spielt demnach eine untergeordnete Rolle.

Ich bin mir nicht sicher, ob diese Sicht den Herausforderungen gerecht wird.

Psychologie des „Hochinflationsregimes“

Man kann es auch so sehen: Die Entwicklung der vergangenen Jahre war derart verunsichernd für die Bürger, dass es den Notenbanken vor allem darum gehen sollte, Vertrauen, Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit auszustrahlen. Genau deshalb sind Signale wichtig: Wann und unter welchen Bedingungen fällt die EZB die Entscheidung, die Zinsen zu senken? Timing und Umstände sind dabei genauso relevant wie die Substanz. Sie bilden den Kontext, in dem eine politische Maßnahme wahrgenommen wird – und dürften sich entsprechend auf das Handeln der Bürger auswirken.

Wenn die EZB trotz wieder anziehender Inflationszahlen die Zinsen senkt, signalisiert sie, dass sie bereit ist, das Wagnis einzugehen, die Phase der Preisinstabilität zu verlängern. Wenn dies auch noch unmittelbar vor einer wichtigen Wahl (achten Sie Donnerstag bis Sonntag auf die Europawahl) geschieht, ist das damit verbundene Signal umso kritischer zu beurteilen.

Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat voriges Jahr vor einem gesellschaftlichen Zustand des „Hochinflationsregimes“ gewarnt.  Das heißt: Anders als in der Niedriginflationsära der vergangenen Jahrzehnte spielen Preisentwicklungen eine große Rolle im Denken und Handeln. Bürger und Unternehmen sind aufmerksam, preissensibel, und sie verhalten sich entsprechend, sodass die Inflationsdynamik „selbststabilisierende Eigenschaften“ (BIZ) annimmt.

Hinweise auf solche Effekte gibt es einige. So ist ein Indikator der Inflationswahrnehmung, den unser Dortmunder Forschungszentrum DoCMA berechnet, zuletzt wieder gestiegen. Das Verfahren beruht auf einer algorithmusbasierten Analyse von Millionen von Presseartikeln (Details zu Methode und Datenbasis finden Sie hier ). Die Werte, die wir messen, liegen nach wie vor deutlich über den Niveaus der Niedriginflationsjahre 2001 bis 2021 – nämlich rund viermal so hoch wie im langfristigen Durchschnitt. Ein Indiz dafür, dass wir noch mitten in einem „Hochinflationsregime“ stecken und psychologischen Aspekten entsprechendes Gewicht zukommt.

In der Tat zeigen auch Umfragen,  mit denen die EZB selbst die Inflationserwartungen der Bürger erfasst, erhebliches Beharrungsvermögen: Zuletzt rechneten die Befragten noch mit Werten, die weiterhin deutlich über der 2-Prozent-Zielmarke der EZB liegen. Die Eurozonen-Bewohner sind nicht restlos von Lanes rückläufigen Inflationsprojektionen überzeugt – zumindest noch nicht.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

Montag

Frankfurt – Deutsche Stärken – Der Maschinenbauverband VDMA veröffentlicht neue Zahlen zu den Auftragseingängen.

Dienstag

Nürnberg – Ende des Jobwunders – Die Bundesagentur für Arbeit legt neue Zahlen zur Arbeitsmarktentwicklung vor. Frühindikatoren zeigen, dass der Beschäftigungsaufbau zu Ende geht. Nach Jahren schwacher Wirtschaftsentwicklung passen die Firmen offenbar ihre Personalplanung an – und „horten“ nicht länger Arbeitskräfte.

HV-Saison I – Hauptversammlungen von Adesso, Evonik, Krones, General Motors.

Mittwoch

Berlin – Das Militär im Himmel – Beginn der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung (ILA) (bis Sonntag).

Frankfurt – Neue Mitglieder? – Die Deutsche Börse überprüft turnusgemäß die Zusammensetzung ihrer Dax-Indizes.

HV-Saison II – Hauptversammlungen von Air France-KLM, Rhön-Klinikum, Gerresheimer, Scout24, American Airlines, Walmart, Airbnb.

Donnerstag

Frankfurt – Et Maintenant, M. la Présidente? – Der Rat der Europäischen Zentralbank entscheidet über die weitere Geldpolitik. Erwartet wird eine Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte. Anschließend stellt sich Präsidentin Lagarde den Fragen der Presse.

Straßburg/Brüssel – Europas Wahl – Beginn der Urnengänge zur Europawahl (bis Sonntag). Entscheidend wird sein, ob das bisherige Bündnis aus Konservativen, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen die Mehrheit im Parlament behält – oder ob rechtsnationalistische Gruppierungen so viele Stimmen bekommen, dass sie das Parlament blockieren können.

Frankfurt – Inflationsausgleich – Beginn der Tarifverhandlungen für die Beschäftigten der privaten Banken in Deutschland.

HV-Saison III – Hauptversammlungen von DWS, Auto1.

Freitag

Wiesbaden/Peking – Friendshoring und so – Das Statistische Bundesamt und Chinas Zollbehörden legen neue Außenhandelszahlen vor, die auch Hinweise darauf geben werden, wie rasch die Fragmentierung des Welthandels voranschreitet.

Washington – Überhitzung? – Die US-Regierung veröffentlicht Daten zur Arbeitsmarktentwicklung.

HV-Saison IV – Hauptversammlungen von Alphabet, Teamviewer.

";Ee(n,i),pe(e,"afterEnd",n)}!je.bxpny459Flags.ncna&&((e=se("aside > .outbrain-container > [id^=AR_]")||se(".OUTBRAIN"))&&(n&&Ue(e,"display","none",""),(i=Le("div")).innerHTML='
Auch interessant
',pe(e,"beforeBegin",i),je.bxpnyCln&&je.bxpnyCln.push(i),o=0,n?a(i,7):p&&(r=De(function(){var e=se("aside > .outbrain-container > #ob_holder+div:not([class]):not([id])"),t=se("aside > .outbrain-container > #ob_holder ~ div.ob-smartfeed-wrapper"),n=se("aside > .outbrain-container > .OUTBRAIN[id]");t?Ae(r):e&&ne(e).top<0?20<=++o&&(a(i,7),Ae(r)):n&&(a(i,7),Ae(r))},100))),s=0,d=t?"m":"",setInterval(function(){R(D(".OUTBRAIN .ob-recIdx-0.ob-p:not(.loc), .OUTBRAIN .ob-recIdx-0.ob-o:not(.loc)"),function(e,t){t.className=t.className+" loc";for(var n=-1b){for(var r=0,f=[0],u=[o[0]],g=1;g -