Mein Name ist Christian Pischlöger, ich bin Doktoratsstudent der Finnougristik an der Universität Wien und im Studienjahr 2017/18 hatte ich die Möglichkeit das Wintersemester mit einem ERASMUS+ Stipendium am Institut für Allgemeine und Estnische Sprachwissenschaft der Universität Tartu in Estland zu verbringen. Aus dem ursprünglich geplanten Semesteraufenthalt wurde dann ein ganzes Studienjahr, da ich die Möglichkeit der Verlängerung wahrnahm, um noch das Sommersemester 2018 anzuhängen. Allein schon die Verlängerung an sich zeigt, dass es mir in Tartu sehr gut gefallen hat, darüber hinaus war der Studienaufenthalt fachlich noch sehr interessant und nützlich. An dieser Stelle versuche ich einen Teil meiner Eindrücke und Erinnerungen an das Studienjahr wiederzugeben. Dies ist zwangsläufig sehr subjektiv und kann nur eine Auswahl sein, der Versuch einer vollständigen Darstellung würde auch den Rahmen eines Blogartikels sprengen. Sollten noch Fragen offenbleiben, bin ich natürlich bereit diese zu beantworten (christian.pischloeger [ätt] gmail.com).
Ich habe das Studienjahr 2017/18 in Tartu sehr genossen und es war sowohl persönlich als auch fachlich eine echte Bereicherung. Auf jeden Fall kann ich jedem und jeder – besonders aber Studierenden der Finnougristik – nur empfehlen die Möglichkeit mit ERASMUS nach Tartu zu gehen zu nutzen.
Persönlich danken möchte ich Johanna Laakso und Márta Csire (Abteilung für Finnougristik, Universität Wien), Tõnu Seilenthal und Gerson Klumpp (Institut für Estnische und Allgemeine Sprachwissenschaft, Universität Tartu) sowie Elo-Hanna Seljamaa (Abteilung für Estnische und vergleichende Folkloristik, Universität Tartu). Ebenso danke ich den Internationalen ERASMUS-Büros in Wien und Tartu.
Semesterbeginn
Zu Beginn des Semesters gibt es drei Tage lang einführende Informationsveranstaltungen für ERASMUS Stipendiaten aus dem Ausland, bei denen man Wissenswertes über Studium, Freizeit und die erfreulicherweise sehr schlank gehaltene Bürokratie erfahren kann. Empfehlenswert ist eine möglichst rasche Anmeldung für Veranstaltungen mit begrenzter Teilnehmerzahl, wie z.B. die Vorstellung des Sportzentrums der Uni. Die habe ich leider versäumt, da kein Platz mehr frei war. Im Prinzip erfährt man in diesen drei Tagen alles, was für einen erfolgreichen Studienaufenthalt notwendig ist. Es sei noch einmal betont, dass die Bürokratie keine große Hürde darstellt, so dass man sich ganz auf das Studium, auf Tartu und seinen Aufenthalt in Estland konzentrieren kann.
Das Institut für Estnische und Allgemeine Sprachwissenschaft
Das Lehrveranstaltungs-Angebot am Institut ist sehr vielfältig und die Lehre hat neben der Forschung einen sehr hohen Stellenwert in Tartu. Man muss schon aufpassen, um nicht zu viele Stunden bzw. ECTS zu kumulieren. Am Ende waren es in meinem Fall 72 ECTS (nur die positiv absolvierten LVs, die nicht abgeschlossen sind nicht mitgezählt), die sich allerdings auch aus Lehrveranstaltungen anderer Institute zusammengesetzt haben. Besonders hervorheben möchte ich hierbei das Institut für Kulturanthroplogie (Institute of Cultural Research), in dem ich sehr viel für meine Dissertation (und für zukünftige Projekte), v.a. über Feldforschung, Methodik und Forschungsethik, gelernt habe.
Das Institut für Estnische und Allgemeine Sprachwissenschaft, in dessen Rahmen auch das Fach Finnougristik fällt, hat eine lange Geschichte und viele hervorragende Wissenschaftler hervorgebracht und angelockt. Einer davon ist Johannes Voldemar Veski, dessen Büste sich bei ebendiesem Institut im vierten Stock des Gebäudes auf der Jakobi 2. befindet. Je nach Anlass und Saison wird Veski z.B. ein Schal verpasst oder wie in diesem Fall ein Apfel in die Hand gedrückt.
Estnisch und Estnischunterricht
Das Lehrangebot für Estnisch ist riesig und der Unterricht ist äußerst professionell. Es gibt für alle Niveaus (von A1 bis C2) und Intensitätsstufen Kurse – von zwei Mal zwei akademische Stunden in der Woche bis zehn Wochenstunden und mehr, nach oben hin gibt es fast keine Grenzen. Unterrichtssprache ist entweder Englisch oder Russisch, für Fortgeschrittene natürlich Estnisch. In den Kursen wird einiges verlangt, der Zeitaufwand ist nicht gering, die Progression ist schnell und auch die (Zwischen- und End)Prüfungen sind keine Geschenke. Es gibt sicher leichter zu erlernende Sprachen als Estnisch, aber Esten sind – nicht nur im akademischen Umfeld – in der Regel sehr geduldig und hilfsbereit, wenn man versucht Estnisch zu sprechen. Sollte es einmal mit der Verständigung nicht mehr klappen, kann man auf Englisch oder auch manchmal auf Russisch ausweichen. Es gibt Studierende in Mastersprogrammen oder Lehrende, die sich bereits mehrere Jahre in Tartu aufhalten, aber noch immer nicht Estnisch können. Das finde ich persönlich zwar schade, zeigt aber, dass man in der internationalen Studentenstadt Tartu auch nur mit Englisch durchkommt. In ganz Estland wird übrigens überwiegend Standardestnisch mit wenig Variationen gesprochen, das macht die Sache leichter als in englisch- oder deutschsprachigen Ländern, da die Sprache, die man auf der Uni lernt, auch die Sprache ist, die man in der Wirklichkeit vorfindet.
Setoland und Setosprache
Die estnische Standardsprache, die heutzutage in Estland überall gesprochen wird – was die Verständigung für Estnischlernende erheblich erleichtert -, basiert im wesentlichen auf Dialekten im Norden Estlands, also dort wo sich auch die Haupstadt Tallinn befindet. Tartu liegt in Süd(ost)-Estland, wo historisch abweichende Dialekte gesprochen wurden und zum Teil noch werden. Besonders in Võrumaa und Setomaa, die sich beide nicht weit von Tartu befinden, gibt es Bestrebungen diese Varianten zu erhalten bzw. zu einer Standardsprache auszubauen und man kann das auch manchmal z.B. auf Aufschriften finden. Die Aufnahme stammt aus Obinitsa, das 2015 finnougrische Kulturhauptstadt war und bis heute Zentrum von Veranstaltungen mit uralischen Themenscdauerndehwerpunkten ist.
Uralische Sprachverwandte in Estland
In Tartu und Tallinn gibt es relativ große uralische, meist gut organisierte Diasporen (z.B. Udmurten, Maris), die v.a. zum Studium nach Estland gekommen sind, zum Teil auch nach dem Studium in Estland geblieben sind und immer wieder Konzerte, Lesungen etc. veranstalten.
Essen und Trinken
Tartu ist eine Studentenstadt und das spiegelt sich auch im Essensangebot wieder. Fast überall wird ein relativ preiswertes Mittagsmenü um die 3,5-5€ angeboten, das oft aus Schweinefleisch und Erdäpfeln in allen Variationen besteht. Es gibt aber natürlich auch internationale Küche (indisch, chinesisch, armenisch, georgisch etc.), vegetarische und sogar vegane Mittagsmenüs, so dass jede/r für sich etwas passendes finden kann. Getränke können zum Menü mitbestellt werden, das ist aber kein Muss und wird meistens auch nicht erwartet. Mit Studentenausweis (empfehlenswert zu Semesterbeginn ausstellen zu lassen!) gibt es oft auch noch Rabatte.
Café Werner
Gegründet wurde das Kaffeehaus 1895 von Johann Werner, der meines Wissens aus Wien stammt (ich lege dafür mein Hand nicht ins Feuer, ich habe die Geschichte im Radio auf Estnisch gehört) und man kommt kaum an ihm vorbei, wenn man in Tartu studiert. Es liegt gegenüber dem Institut für Kulturanthropologie und ca. 50m von Jakobi 2 bzw. Lossi 3, wo sich auch das Institut für Estnische und Allgemeine Sprachwissenschaft mit der Finnougristik befindet. Es ist nicht billig – um nicht zu sagen ganz schön teuer -, die Qualität spricht aber für sich und das Angebot weist auch eine gewisse Innovativität auf. Geheimtipp: zum Frühstück gibt es Haferbrei für wenig Geld.
Der „Saatse-Stiefel“ und Russland
Der „Saatse-Stiefel“ ist ein Kuriosum: eigentlich russländisches Hoheitsgebiet, das nach Estland hineinragt, braucht man dennoch kein Visum, um ihn zu passieren (man darf aber weder anhalten, noch aussteigen). Aber selbst wenn man z.B. ins nahe Sankt Petersburg fahren will, bekommt man auch als Österreicher relativ leicht, schnell und unbürokratisch ein Visum ohne sich z.B. um eine Einladung oder Versicherung kümmern zu müssen. Das erledigt alles entweder eines der spezialisierten Reisebüros oder das Visazentrum in der Ülikooli 2a.
Museen
Estland ist ein Land der Museen, stellvertretend soll hier das Estnische Nationale Museum (ERM) genannt werden. Eine große Rolle im ERM spielen die uralischen Sprachverwandten in Russland, denen eine ständige Ausstellung namens „Echo des Urals“ gewidmet ist. Die andere ständige Ausstellung „Encounters“ beschäftigt sich mit der Geschichte Estlands von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Daneben gibt es auch temporäre Ausstellungen und immer wieder Veranstaltungen wie Lesungen, Tanzvorführungen (z.B. von Uraliern oder den baltischen Nachbarn), Theaterstücke, Filmfestivals etc.
Freizeit – Schwimmbad „Aura Veekeskus“
Für Leute, die schwimmen und nicht plantschen wollen, sehr gut geeignet, da immer Leinen gespannt sind und man eigentlich immer eine Bahn findet, um seine Runden zu ziehen. An den Bahnen kann man übrigens sehen, ob Ferienzeit ist (Leinen der Länge nach gespannt, also 50m Bahnen) oder ob gerade das Semester läuft (Leinen quere gespannt, als 25m Bahnen). Die gute Sauna ist im Preis inbegriffen. Der Preis für das Schwimmbad ist relativ hoch und leider gibt es keine Monats- oder Jahreskarten. Mit Studentenausweis (der überhaupt empfehlenswert und altersunabhängig ist, es sei noch einmal erwähnt!) gibt es allerdings eine Ermäßigung. Außerdem verfügt das Wasserzentrum über einen Spa-Bereich, den ich allerdings nicht benutzt habe. Sollte im Wasserzentrum gerade ein Wettkampf stattfinden, gibt es die Möglichkeit auf das Arena-Bad in der Nähe der Universität der Umweltwissenschaften („Maaülikool“) auszuweichen.
Anstelle eines Résumés noch ein paar Bilder