Sie ist gerade ins Ausland gegangen. Ihr erster Job in einem fremden Land, in einer großen, bekannten Firma verhieß Aufstieg und soziales Prestige. Doch jetzt ist alles anders. Sie kommt nicht klar in der Abteilung, kann sich kein Gehör verschaffen. Eine Frau, die der Boss sein soll und die zukünftig auch den männlichen Kollegen vorsteht, kommt offenkundig nicht gut an. Marie Groß, Entwicklungsingenieurin in einem Pharmakonzern, weiß nur einen Rat: Fern der Heimat in Lateinamerika googelt die 27-Jährige die Begriffe "Psychologen online" und "psychologische Beratung" und wird fündig. Auf der Seite www.psychologen-online.com findet sie die Hilfe, die sie gesucht hat. Eine Art Webtherapie, bei der sie keine Praxis aufsuchen muss und Gefahr laufen könnte, dabei beobachtet zu werden. "Außerdem ist Hilfe in der Muttersprache viel effizienter. In einer Fremdsprache über Probleme und Belastungen zu sprechen, ist eher schwierig", berichtet Klemens Lühr, Psychologe und Begründer des webgestützten Beratungsportals.

Marie Groß, die ihren echten Namen für sich behalten möchte, ist eine von vielen Klientinnen, die bei Klemens Lühr und seinen beiden Kolleginnen Hilfe suchen. "Ein Coaching wollen vor allem die Frauen, die sich beruflich verändert haben und plötzlich im Ausland mit einem offenen Machismus konfrontiert werden", sagt Lühr. Frauen in Führungspositionen, zwischen 25 und 40 Jahren, hätten das Bedürfnis, ihre Rolle als Führungskraft in einem Männerteam zu definieren. Bei Lühr und seinen beiden Kolleginnen werden traditionelle Rollenmuster infrage gestellt, die vor allem Frauen belasten. "Mein Mann hat ein tolles Angebot im Ausland bekommen. Das konnte er unmöglich ablehnen. Er verdient dort so viel Geld, dass es uns richtig gut geht. Ich muss nicht arbeiten. Aber ich frage mich, was meine Rolle ist. Ich werde nicht gebraucht und bin meistens allein, während er unterwegs ist." Auch dieses Beispiel einer Kölnerin, Mitte 30, ist typisch für die Klienten von psychologen-online. Die Frau, die mit ihrem Ehemann nach Spanien ging, wandte sich an das Onlineportal, weil sie nicht mehr weiter wusste.

Weitere Klientinnen und Klienten, die unter anderem in England, Singapur, USA, Costa Rica leben, sind Arbeitnehmer internationaler Organisationen, Auswanderer oder internationale Freiwillige. Doch gerade im Ausland kommt mitunter eine Krise. Wie kann ich Heimweh und Einsamkeit überwinden? Wie gehe ich mit mir fremden Wertvorstellungen und Lebensgewohnheiten um? Wie erhalte ich Anerkennung und Unterstützung von Menschen in meiner neuen Umgebung?

"Eine Herausforderung ist es dabei, eigene Überzeugungen, Verhaltensweisen und Kommunikationsmuster zu reflektieren und an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Vorbereitungsseminare und Ratgeber für interkulturelle Kompetenzen können dafür sensibilisieren, der Sprung ins kalte Wasser hält dennoch Überraschungen vor Ort bereit", sagt Lühr. Grundsätzlich glaubt er, dass alle Klienten die Fähigkeiten besitzen, Probleme zu lösen und schwierige Situationen zu bewältigen. Dafür suche man mit ihnen nach ihren Stärken und Kompetenzen. "Häufig ergeben sich Ansatzpunkte für Lösungen ihres Problems. Manchmal braucht es auch Impulse von außen, um diese Fähigkeiten auszugraben und zu nutzen."

Vor einem Jahr setzte Klemens Lühr zusammen mit Psychologin Nora Thiemann sowie Lebensberaterin und Erziehungstrainerin Petra Hellmann die Idee zur Onlineberatung in die Tat um. Aber kann man einem Menschen in einer Krise wirklich online helfen? Lühr ist davon überzeugt. Er sagt: "In Skandinavien gibt es das schon lange. Da hat man weniger Berührungsängste." Vielfach geht es weniger um echte psychische Erkrankungen als mehr um Phasen, in denen jemand Fragen hat und sein Herz ausschütten möchte. Gerade das geht online mitunter sogar einfacher.  Niemand außer dem Psychologen erfährt vom Beratungsbedarf. "Unsere Leitungen sind sicher und wir behandeln das Gesagte streng vertraulich", versichert Lühr. Wer auf die Kamerafunktion des PC verzichten möchte, offenbart sich maximal mit seiner Stimme. Das Erstgespräch ist kostenlos – weitere Beratungen kosten pro Stunde zwischen 60 und 120 Euro. Wer online einen Termin erfragt, wird spätestens drei Tage später vor seinem PC sitzend beraten und muss nicht, wie sonst üblich, sechs bis acht Wochen auf einen Termin warten. Die Beratung an Depression erkrankter Menschen gehört allerdings nicht zum Angebot.

Wie wirksam ist die Onlinetherapie?

Dabei ist die Onlineberatung von Depressiven heute kein Tabu mehr. "Die generelle Wirksamkeit von Onlineinterventionen bei Depressionen und Angststörungen ist mittlerweile umfassend belegt", sagt zum Beispiel Prof. Christine Knaevelsrud, Psychotherapeutin und Professorin für Klinisch-Psychologische Intervention an der Freien Universität Berlin. Für die Techniker Krankenkasse (TK) hat sie eine Studie über die Wirksamkeit eines Internet-Depressionscoaches geleitet.

Die Ergebnisse ihrer Arbeit gleichen, so die Forscherin, denen internationaler Studien: Nach der Onlineberatung hatte sich die Depression der Patienten von einer im Schnitt mittelschweren Erkrankung auf eine mit klinisch nicht mehr bedeutsamem Wert verbessert. Knaevelsrud: "Von Vorteil kann eine Onlineberatung gerade auch für Menschen sein, für die der Gang zum Therapeuten eine Hürde darstellt. Ihnen fällt es am heimischen Computer leichter, sich zu öffnen. Zudem ist der Onlinecoach auch in Regionen leicht zugänglich, in denen die psychotherapeutische Versorgung eher ungünstig ist." Die TK sieht ihren Depressionscoach sogar als ideale Ergänzung zu einer klassischen Verhaltenstherapie. Er richte sich an leicht bis mittelschwer erkrankte depressive Menschen, die einen neuen Umgang mit ihrer Depression erlernten.

Nicht ganz so optimistisch fällt die Bewertung der Onlineberatung durch den Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. aus: Psychologische Beratung sei grundsätzlich auch online möglich und sinnvoll, wenn sie wissenschaftlich fundiert, humanistisch geprägt und in ethischer Verantwortung geschehe. Dennoch: "Dass Beratung keine Psychotherapie ersetzen kann, darf nicht nur eine Plattitüde sein, sondern es muss die Qualifikation vorliegen, dies auch und gerade in der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeit der Onlineberatung rechtzeitig zu erkennen, die Beratung abzubrechen und den Beratenen oder Ratsuchenden auf die Angebote der Psychotherapie zu verweisen", teilt der Berufsverband mit.

Auch Klemens Lühr kennt die Grenzen seines Angebots: "Wir ersetzen keinen Therapeuten und keine Behandlung mit Antidepressiva oder Psychotherapie. Wenn wir es mit einem Klienten zu tun haben, der an einer Depression leidet, vermitteln wir an einen Therapeuten weiter."