Israel scheint seit Wochen am Abgrund entlangzubalancieren. Die umstrittene Justizreform wurde in letzter Minute auf Eis gelegt. Doch kaum pausieren die innenpolitischen Spannungen, rutscht das Land in eine Sicherheitskrise, die die Stabilität der gesamten Region bedroht und jetzt auch Touristen betrifft.

Am Freitagabend raste ein arabischer Israeli in eine Gruppe Urlauber an der Strandpromenade von Tel Aviv. Ein 35 Jahre alter Italiener wurde bei dem Anschlag getötet, fünf weitere Menschen verletzt.

Die Lage eskaliert nach Lehrbuch. Denn seit Monaten warnten Sicherheitsexperten: Sobald im April die Zeit des Vollmondes kommt und Ramadan, Pessach und Ostern zusammenfallen, dann dürfe auf gar keinen Fall etwas auf dem Tempelberg/Al-Haram al-Scharif passieren.

Am Mittwoch stürmten israelische Sicherheitskräfte trotzdem die Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg. Noch in der Nacht flogen Raketen, erst aus Gaza. Am Donnerstag auch aus dem Libanon, so viele wie seit dem letzten Libanon-Krieg 2006 nicht mehr. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu rief eilig sein Sicherheitskabinett zusammen. Mit am Tisch saß Verteidigungsminister Joaw Galant. Er hatte sich gegen die Justizreform gestellt und war von Netanjahu deshalb gefeuert worden, theoretisch. Praktisch muss Netanjahu derzeit für jeden vernünftig denkenden Kopf in seiner Koalition dankbar sein.

Niemand wolle neue Gewalt in Nahost, heißt es. Die islamistische Hamas nicht, auch nicht die geschwächte Palästinenserführung in Ramallah und erst recht nicht Netanjahu. Innenpolitisch unter Druck stehend durch seine kleinen, unerfahrenen Bündnisparteien um den rechtsextremen Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und den nicht weniger radikalen Finanzminister Bezalel Smotrich, droht Netanjahu auch international die Macht aus den Händen zu gleiten.

Biden markiert Distanz zu Netanjahu

Die Golfstaaten gehen angesichts der extremen Koalitionspartner auf Distanz. Saudi-Arabien lässt sich lieber auf Verhandlungen mit dem Erzfeind Iran ein, und auch der wichtigste Partner USA wendet sich ab. US-Präsident Joe Biden verweigert seinem israelischen Amtskollegen die Einladung zu einem Staatsbesuch und macht damit klar, wer im amerikanisch-israelischen Verhältnis Koch und wer Kellner ist.

Seit dem Vorfall in der Al-Aksa-Moschee musste Israels Militär wieder die wertvollen Abfangraketen aus dem Abwehrsystem Iron Dome verschießen, bis zu 150.000 US-Dollar kostet eine davon, größtenteils finanziert mit Geld aus den USA. In der Nacht zu Freitag griff die Luftwaffe Ziele der Hamas in Gaza und im Libanon an. Die gezielten Angriffe sollten ein Zeichen der Zurückhaltung an die Feinde senden: Israel habe wirklich kein Interesse an einer Eskalation oder gar an einem vollwertigen Krieg mit dem nördlichen Nachbarn, der über Umwege auch zur direkten Konfrontation mit dem Iran führen könnte. Der könnte in zwei Wochen genug Uran für eine Bombe haben, liefert zudem Drohnen an Russland für dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine und bandelt mit China an – die Verhandlungen mit Saudi-Arabien hat Peking ausgehandelt.

Die geopolitische Großwetterlage könnte nicht schlechter sein für die Sicherheitskrise, vor der Israel steht: Siedlergewalt und palästinensische Terroranschläge im besetzten Westjordanland und im Landesinneren, dazu anhaltende Massenproteste und immer wieder Drohungen radikaler Unterstützer der Regierung, politische Gegner anzugreifen. Das 9,5-Millionen-Einwohner-Land geht auf dem Zahnfleisch, die Nerven liegen blank. Bald drohen nicht nur die mentalen Ressourcen, sondern auch die Floskeln auszugehen, um eine Lage zu beschreiben, die Netanjahu entscheidend mitverursacht hat. Die Frage ist nun, ob er eine Verschlimmerung überhaupt noch verhindern kann.

Ein Erbe wird verspielt

Netanjahu droht sein Erbe und damit Israels Zukunft zu verspielen: In den anderthalb Jahrzehnten seiner Regierungszeit hat er das Land wirtschaftlich stark und sicherheitspolitisch stabil gemacht. Dank kluger Entscheidungen in der Impfkampagne hat sich das Land schneller von den Folgen der Pandemie erholt als andere. Durch den Zugang zu eigenen Gasverkommen im Mittelmeer und strategischen Handel mit den Nachbarländern Ägypten und Jordanien steht Israel auch im Energiesektor unabhängig da. Die Inflation betrug deshalb 2021 nur 3,6 Prozent, deutlich weniger als in Deutschland oder den USA.

Seit Antritt der neuen Regierung Ende Dezember verliert der israelische Schekel konstant an Wert, gleichzeitig steigen die Zinsen und die Inflation. Auch der Tourismus wird unter der angespannten Sicherheitslage leiden, nachdem der internationale Flughafen Ben Gurion zwei Jahre covidbedingt so gut wie geschlossen war. 2,67 Millionen Urlauber reisten 2022 nach Israel, immerhin halb so viele wie 2019, als Israel seinen historischen Besucherrekord aufgestellt hatte. Einer der Hauptgründe dafür war die lange Phase der Sicherheit ohne Anschläge oder Aufstände, wie man sie in den frühen Nullerjahren während der zweiten Intifada erlebt hatte.

Während der Feiertage sind die meisten Hotels im Land ausgebucht. Am Ostersonntag werden in der Altstadt von Jerusalem Zehntausende Pilgerinnen und Pilger erwartet. Nach dem Freitagabend kündigte Netanjahu an, alle Reservisten der Grenzpolizei einzuberufen. Auch die Reservisten der Luftwaffe wurden einbestellt.

Sosehr alle Seiten betonen, weiterhin keine vollständige Eskalation zu wollen: Man bereitet sich längst darauf vor.