Gerade mal vier Reden hat Verena Hartmann im Plenarsaal des Bundestages gehalten, so weist es die Mediathek des Parlaments aus. Fraktionskollegen beschreiben die 45-jährige Bundestagsabgeordnete der AfD aus Sachsen als unauffällig. Schon von März bis Mitte 2019 nahm sie an kaum einer Abstimmung im Plenum teil, seit Mitte November an keiner mehr

Verena Hartmann ist die fünfte Abgeordnete, die die AfD und damit die Bundestagsfraktion verlässt. Frauke Petry ging schon 2017, kurz nach dem Bundestagseinzug der AfD. Der NRW-Abgeordnete Mario Mieruch folgte ihr Tage später. Ein Jahr danach gab der nordrhein-westfälische Digitalpolitiker Uwe Kamann auf. Kurz vor Weihnachten 2019 entschloss sich der sächsische Bundespolizeibeamte Lars Herrmann zum Rückzug. Nun also die gebürtige Sächsin Hartmann. 

Als Fraktionslose sitzen sie alle in der letzten Reihe des Plenarsaals hinter ihren Ex-Parteikollegen. Wenn diese Einzelkämpfer am Rednerpult sprechen, rührt sich keine Hand zum Applaus. 

Für die auf 89 Abgeordnete geschrumpfte AfD-Fraktion hat das bereits Folgen: Mit jedem abtrünnigen Abgeordneten büßt sie monatlich fast 10.000 Euro aus der Kasse des Bundestages ein. Zudem dürfen ihre Redner in den Debatten von 60 und 90 Minuten Länge nur noch sieben statt acht Minuten sprechen. In den halbstündigen Debatten ändert sich dagegen nichts. Auch ihre Präsenz in den Ausschüssen des Bundestages verringert sich zwar noch nicht.    

Intern sorgt man sich in der AfD nun, dass Hartmann nicht die letzte war, die geht. Denn die Gründe, die die ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten angeben, ähneln sich: Hartmann beklagt, sie könne den Rechtskurs ihrer Partei "nicht mehr mittragen". Durch den von der Parteispitze tolerierten völkisch-nationalistischen Parteiflügel um Björn Höcke sei der "Wandel der AfD besiegelt", schrieb sie auf Facebook. Wer sich "gegen diese rechtsextreme Strömung" wehre, werde gnadenlos aus der Partei gedrängt. Auch Lars Herrmann hatte über einen wachsenden Einfluss Höckes in der Partei geklagt und gesagt: "Das ist nicht das, was ich mir unter AfD-Politik vorstelle." Und Kamann beklagte "die permanente, fortschreitende Radikalisierung" der Partei. 

Über die AfD sind nach deren Gründung 2013 viele in die Politik eingestiegen, die das ohne die Partei von Lucke und Petry nie getan hätten. Hier gibt es überdurchschnittlich viele Praktiker, Menschen mit langer Berufserfahrung. Manche gaben für ihr Mandat gesicherte Existenzen als Unternehmer, Selbstständige oder Beamte auf. Gut möglich, dass bald weitere AfD-Parlamentarier abwägen, ob sie eine glanzlose Zukunft in einer sich radikalisierenden, aber einflussarmen Oppositionspartei anstreben oder zu ihren eigenen Wurzeln zurückkehren. 

Viele Berufssoldaten, Polizisten und Staatsdiener

Die Fraktionsspitze bedauert offiziell den Rückzug jedes Einzelnen, hält sich mit Prognosen aber zurück. Unter den Fraktionsmitgliedern rechnet man aber mit einem Aderlass: "Es ist durchaus denkbar, dass da demnächst noch der eine oder andere Abgeordnete geht", sagt der NRW-Parlamentarier Rüdiger Lucassen. 

Mancher in der Fraktion hält die Kritik am Rechtskurs der Partei jedoch für vorgeschoben. Den Ausschlag gebe vielmehr die Zukunftsangst, ist zu hören: Viele Selbstständige und Unternehmer in der AfD-Fraktion klagen über Kundenschwund und abtrünnige Klienten – wegen ihres politischen Engagements. Und die Beamten in der Partei könnten dienstrechtliche Probleme bekommen, wenn der Verfassungsschutz den Höcke-Flügel oder gar die gesamte Partei unter Beobachtung stellen sollte. Die Entscheidung dürfte die Behörde im Frühjahr verkünden. Hartmann und Herrmann sind ausgebildete Polizisten. Allein in der Bundestagsfraktion gibt es fünf weitere, hinzu kommen Berufssoldaten und weitere Staatsdiener. 

Angesichts dieser Risiken liegt es nahe, sich neu zu orientieren, bevor weiterer Schaden eintritt. Denn vor allem in der ostdeutschen AfD scheidet eine Zukunft in der Politik für all jene aus, die sich gegen Höckes Kurs stellen. "Der eine oder die andere Abgeordnete dürften ahnen, dass sie bei der Listenaufstellung für die nächste Bundestagswahl nicht erfolgreich sein würden", sagt Lucassen. In der Tat hätte keiner der Aussteiger eine reale Chance, in der AfD erneut als Bundestagskandidat aufgestellt zu werden. Und andere Parteien dürften Ex-AfD-Mitgliedern schwerlich eine Chance geben.

Geistig verwirrt, kein Migrant

Hartmann hat die Härte des politischen Geschäfts mehrmals zu spüren bekommen. Ihr Netzwerk war dünn, die Arbeitsatmosphäre nach der Wahl schnell vergiftet: Ein Kollege bedrohte sie innerhalb einer Fraktionssitzung: "Wir machen dich fertig", fauchte der sächsische Höcke-Freund Jens Maier. Hartmann wich zunächst aus: Sie verließ den Höcke-hörigen Männerbund der Landesgruppe der sächsischen AfD-Abgeordneten und dockte bei der Landesgruppe Nord an – wozu die Parlamentarier des für ostdeutsche Verhältnisse weniger radikal geführten Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern gehören. Aus dieser Distanz unterschrieb sie den Appell der 100 gegen den Ich-Kurs des Thüringer AfD-Nationalisten Höcke, was die Verachtung der Höcke-hörigen Sachsen für Hartmann weiter verstärkte. Bald wurde klar: Wer sich gegen Höcke stellt, hat in der AfD in Ostdeutschland kaum mehr eine Chance. 

Als ihre Fraktionskollegin Nicole Höchst in einer Anfrage an die Bundesregierung einen Zusammenhang zwischen Behinderungen durch familiennahe Heirat und Migranten herstellte, setzte sich die Entfremdung fort. Ihr Name sei versehentlich unter die Unterzeichner gelangt, twitterte Hartmann, als die Kritik an Höchsts Anliegen in Entrüstung umschlug. Darüber hinaus ist Hartmann aber nicht nur Opfer ihrer eigenen Partei. Verheerend waren die öffentlichen Reaktionen auf einen Tweet Hartmanns, der dem AfD-Prinzip der maximalen Stimmungsmache folgte: Sie schrieb 2019 über Bundeskanzlerin Angela Merkel, sie verfluche den "Tag ihrer Geburt". Grund war, dass am Frankfurter Hauptbahnhof ein Mann einen achtjährigen Jungen und seine Mutter vor einen ICE geschubst hatte. Der Mann aber war geistig verwirrt, und kein Migrant, wie von Hartmann indirekt unterstellt.Ihren Twitter-Account hat Hartmann mittlerweile gelöscht.